Crystal Palace – Still There – Ein Review
Eigentlich hatte ich nicht geplant eine Rezension für dieses Album zu schreiben, obwohl ich es jetzt schon seit Wochen höre. Man muss ja nicht zu allem seinen Senf abgeben, aber ehrlich gesagt lässt mich das Thema des aktuellen Konzeptalbums “Still There” von Crystal Palace nicht wirklich los und was soll ich sagen, naja, ich schreibe doch etwas.
126 Steps
Allein der Opener “126 Steps” lässt einiges erahnen, auch wenn einem das Thema am Anfang vielleicht noch nicht so ganz klar ist. Da heißt es “126 reasons to escape from here, 126 reasons to not look back, 126 reasons to find this place, 126 Steps still to go…”. Es scheint hier für jemanden Gründe zu geben zu verschwinden und nicht zurück zu sehen und scheinbar reichen hierfür nur noch 126 Schritte oder eben Stufen, wie man im weiteren Verlauf des 74-minütigen Album noch erfahren wird und es schnürt einem fast die Luft ab, wenn man erfährt, worum es hier eigentlich geht. Aber eins nach dem Anderen. Verraten kann man, dass es sich im Kern um eine wahre Geschichte handelt, um die eine teilweise fiktive Geschichte gesponnen wurde.
Musikalisch ist “126 Steps” unspektakulär, aber fühlt sich als Intro absolut richtig an.
Leaving This Land
Nahtlos fügt sich “Leaving This Land” an und auch hier geht es inhaltlich um das Verlassen, und zwar eines Landes, England. Textzeilen wie sinngemäß “Lebt wohl und fickt euch alle” machen deutlich, wie sehr hier jemand innerlich am Kämpfen ist. Die Stimmung des Songs wirkt anfangs recht hoffnungsvoll, hier wird das erste mal deutlich, wie sehr sich die Musik an dem Text orientiert, sich dramaturgisch anpasst. Ich weiß, dass der Text vor der Musik entstand, das war offensichtlich eine sehr gute Idee! Ich höre hier ein wenig Steven Wilson heraus, was aber mehr ein Prädikat ist und keine Kritik. Ein wunderbarer Song, man hängt förmlich an der Geschichte und wird auditiv nahezu perfekt begleitet. Klanglich kann man hier auch absolut nicht meckern, es ist zwar dicht instrumentalisiert, aber alles behält seinen Raum und bleibt differenzierbar. Bravo, das war auf Crystal Palace’ Vorgänger-Album “Scattered Shards” noch deutlich anders gewesen.
A Plan You Can’t Resist
“A Plan You Can’t Resist” erzählt von einer Art innerem Dämon mit einem Plan, dem man nicht widerstehen kann. Er verspricht “the end of all anger, the end of the darkness”. Auch hier folgt die Musik wieder der Geschichte, wunderbare Tempiwechsel und stets die passende Stimmung. Alles richtig gemacht! Mir fallen im Text zu diesem Track im Booklet kleine Fehler auf, es wird mehr gesungen, als dort abgedruckt ist.
Winter’s End On Water
“Winter’s End On Water” ist eine dieser Ausschmückungen um den Kern der Geschichte herum. Alles wirkt hier so “normal”, die Harmonien sind eher eingängig, nur das Ende reißt einen dann etwas heraus. Insgesamt zwar eher ein Lückenfüller, aber auch dieses Puzzleteil braucht ein solches Konzeptalbum, um am Ende rund zu sein.
Dear Mother
Mit “Dear Mother” geht es mit einer leicht und bewusst übersteuerten Gitarre etwas kräftiger zur Sache, wechselt aber ab ca. Minute 2 in einen zum Weinen schönen Gitarrenpart. Im weiteren Verlauf hört man das erste mal auch die Stimme von Frank Köhlers Tochter Roxy Furcht und man muss wirklich sagen, sie gehört mit Ihrer Darbietung auch genau dort hin! Der Track teilt sich in 2 Parts, “The Empty Wall” und “The Long Goodbye”. In letzterem wird der Text nur noch gesprochen, verleiht ihm dadurch aber deutlich mehr Aussagekraft. Man weiß nun auch, die Protagonistin ist weiblich. Das gibt den Emotionen Auftrieb und lässt diese Frau in der Story plastischer werden. Ihr macht mich fertig Jungs, dieser Track ist der Wahnsinn!
Planned Obsolescence
Der Text von “Planned Obsolescence” hätte lässig auch von Herrn Wilson stammen können. Gesellschaftskritisch ohne Ende, denn hier geht es um die planmäßige Veralterung von Dingen und wie das System auf Dich zählt, in Deinem Konsum der Schnelllebigkeit. “…we all live on planned obsolescence, we all live on PLANET obsolescence” bringen Crystal Palace hier krass auf den Punkt und das sind oft genug die Gründe für die immer depressiver werdende Gesellschaft. Auch das ist ein Lückenfüller, aber widerum ein sehr wichtiger Baustein zum Ganzen! Musikalisch kurzweilig und bestens arrangiert.
Orange Popsicle Sky
“Orange Popsicle Sky” erzählt von einem orangfarbenen Himmel über Berlin, der farblich einem englischen Eis am Stiel ähnelt. Eigentlich eher versöhnlich gestaltet, wird sich hier an die Kindheit erinnert und eigentlich hätte dieser Song auch ein Happy End darstellen können, leider kommt es aber anders, ganz anders…
Shadows
Ich merke an dieser Stelle sehr deutlich, dass Musik und Text zwar eine Einheit bilden, die Geschichte ansich mich aber mehr bewegt und in seinen Bann zieht. Mit “Shadows” ändert sich deutlich die Stimmung, es wird härter und die Textzeile “I just lost the will to live” leitet eindeutig eine üble Wendung ein und auch hier wieder musikalisch grandios umgesetzt.
A Scream From The Wall
Ein 3/4-Takt leitet “A Scream From The Wall” ein, wechselt in einen 6/8 und 4/4, das will ich beim Prog und natürlich auch beim Art-Rock genau so hören! ;o) Die Stimmung bleibt gekippt, aber noch ist sie da! “Still There” sind die Worte, die auf dem 126 Stufen hohen Turm stehen, soviel hat der aufmerksame Hörer längst mitbekommen. “Der Schrei von der Wand” ist der Schriftzug “Still There” selbst. Mir wird bewusst, wohin die Reise geht und es bedrückt mich.
These Stairs
Mit “These Stairs” geht es offenbar ein letztes Mal “diese Treppen” herauf. “Saying good-bye to the world” ist im Text mehr als deutlich, auf ein Happy End braucht hier niemand mehr zu hoffen. Die Gitarren werden deutlich härter, es bleibt unglaublich passend…
The Unquiet Window
“Moving On, Moving On” lautet der erste Part von “The Unquiet Window”. Eigentlich ein schöner Song, aber man möchte hier irgendwie gar nicht, dass der Song so schön ist, denn das unverschlossene Fenster macht den Weg frei für das Ende, für das Ende dieser Frau! Der zweite Part “Keep My Words” ist echt bitter, denn er beschreibt nicht nur den Sprung und Fall vom dem Turm, sondern insbesondere die letzten Gedanken und Gefühle dieser verzweifelten Frau, die reduzierte Instrumentalisierung trägt eine gewisse “Stille” in sich, man mag automatisch die Luft anhalten…
Roxy übernimmt hier wieder den Sprechpart und sie bringt es wirklich punktgenau so rüber, dass es einem Nahe geht.
Still There
Der Titletrack “Still There” startet erneut mit einem 3/4 Takt und erzählt im Grunde, wie Sänger und Bassist Yenz sich auf dem Müggelturm befindet, von der Geschichte erfährt und letztendlich das Fenster schließt…
Crystal Palace haben mit diesem Album ein Meilenstein hingelegt und konnten Ihrer proggigen Diskografie endlich ein Konzeptalbum hinzufügen, welches sich mehr als hören und sehen lassen kann. Und sie haben sich dafür ein Thema ausgesucht, welches wie die Faust auf’s Auge zum Zeitgeist passt. Kein anderes Thema bestimmt derzeit mehr das gesellschaftliche Miteinander, als Depressionen. Ob es Comedians wie Thorsten Sträter sind oder aktuell das Buch von Kurt Krömer, in dem er ganz offen über seine inzwischen 30 Jahre anhaltenden Depressionen spricht. Da Teile meiner Familie und auch ich selbst damit zu tun haben und den Kampf kennen, bewegt mich dieses Thema umso mehr und ich bin einmal mehr dankbar dafür, dass es wieder ein Stück weit sichtbarer, oder wie Crystal Palace es hier tun, hörbar gemacht wird!
Danke dafür!
Fazit:
Die Kompositionen sind durchweg sehr gut gelungen, die Stimmung passt stets zum Text und wenn es in der Geschichte bedrückender wird, wird auch die Tonalität etwas molliger. Klanglich gibt es auch keinerlei Ausreißer, was beim letzten Album leider in die Hose ging, ist hier um Längen besser und an keiner Stelle wird man klanglich aus dem Geschehen gerissen, sehr gut. Luft nach oben gibt es natürlich schon noch, aber die Luft ist äußerst dünn! Als klitzekleine Kritikpunkte sind hier und da kleinere Unstimmigkeiten im Gesang und die Texte im Booklet passen bei einigen Songs nicht 100%ig, aber das sind wirklich absolute Winzigkeiten und maulen auf ganz hohem Niveau. Mir gefällt auch das Artwork recht gut, die Fotos sind überwiegend ausdrucksstark und spiegeln bestens die Songs wieder. Insbesondere das Foto zu “A Scream From The Wall” ist hier hervor zu heben. Das gesamte Kunstwerk steht da wie aus einem Guss!
Ich weiß nicht, wieviel Punkte man hier geben sollte, von 10 Punkten würde ich hier wahrscheinlich 9,6 geben, aber eigentlich ist das alles albern, denn ich bin wirklich extrem begeistert und würde mich jetzt sehr über eine Liveperformance freuen!
Checkt auf jeden Fall auch den Shop auf der Crystal Palace Website und deren inzwischen verfügbares digitales Angebot bei Bandcamp.
Darüber hinaus kann ich auch wärmstens das Special zum Album Release auf RSD-Radio empfehlen, in dem Yenz von Crystal Palace Rede und Antwort steht:
Tracks Listing:
01. 126 Steps
02. Leaving This Land
03. A Plan You Can‘t Resist
04. Winter‘s End On Water
05. Dear Mother
06. Planned Obsolescence
07. Orange Popsicle Sky
08. Shadows
09. A Scream From The Wall
10. These Stairs
11. The Unquite Window
12. Still There
Line-up:
– Nils Conrad / Guitars
– Frank Köhler / Keyboards
– Jens Uwe Strutz / Bass, Vocals
– Tom Ronney / Drums
– Roxy Furcht / Erzählerin
Klasse Review…genau auf den Punkt.